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Freiburger Geographische Hefte, Heft 69

Dirk Riemann (2012): Methoden zur Klimarekonstruktion aus historischen Quellen am Beispiel Mitteleuropas

Zusammenfassung

Vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte um den möglichen Einfluss des Menschen auf die Prozesse der Erde gewinnt die Notwendigkeit eines möglichst umfassenden Verständnisses u. a. des Klimasystems an Bedeutung. Durch die Kenntnis möglichst langer, hoch aufgelöster Zeitreihen zu verschiedenen Klimaparametern kann die Güte der Prognosen durch Klimamodelle verbessert werden. Außerdem ermöglichen hoch aufgelöste Analysen eine bessere Abschätzung der regionalen Auswirkungen von Klimaänderungen. Vor diesem Hintergrund hat die Paläoklimatologie in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen.

Mitteleuropa ist reich an schriftlichen Zeugnissen, welche für die letzten 500 Jahre in ausreichender Dichte und Qualität vorliegen, um für nahezu jeden Monat ein differenziertes Bild der Witterung, u. a. der thermischen und hygrischen Bedingungen, zeichnen zu können. Diese Differenzierung erlaubt die Zuordnung der Aussagen zu sieben Intensitätsklassen, welche für die thermischen Angaben von -3 für extrem kalt, über 0 für normale Bedingungen bis hin zu +3 für extrem warm reichen. Für den Zeitraum von 1000 - 1500 ist eine jahreszeitliche Auflösung mit mindestens dreistufiger [-1 0 1] Bewertung möglich. Diese indexbasierten Bewertungen für die letzten 1000 Jahre wurden durch GLASER (2008) zu einer durchgängigen Reihe zusammengestellt und bilden eine Grundlage der hier vorgestellten methodischen Arbeiten. Die Untersuchungen beziehen sich v. a. auf Hinweise zur Temperatur, die methodischen Überlegungen können jedoch auch auf andere indexbasierte Witterungsangaben erweitert werden.

Eine Ausgangsfrage dieser Arbeit war, ob klassifizierte Angaben aus historischen Quellen mittel- und langfristige Klimaänderungen beschreiben können. Die von GLASER (2008) abgeleitete Indexreihe weist eindeutig einen langfristigen Verlauf auf, in welchem sich bekannte Phasen wie das Mittelalterliche Optimum, die Kleine Eiszeit und der moderne Temperaturanstieg ausmachen lassen. Aus dieser Beobachtung leitet sich unmittelbar die Frage ab, warum Indizes, welche aus historischen Quellen abgeleitet wurden, dazu in der Lage sind– würde man intuitiv doch einen Verlust des langfristigen Signals erwarten– da sich die Wahrnehmung der Chronisten an veränderte Klimabedingungen anpassten. Vor dem Hintergrund einer hohen interannuale Variabilität sowie der hohen Variabilität der Monatsmitteltemperaturen (STDs bis zu 3°C) kann davon ausgegangen werden, dass geringe Verschiebungen der Mitteltemperatur nicht immer wahrgenommen wurden: Ein kalter Winter wurde wohl immer als kalt wahrgenommen. Für das Untersuchungsgebiet kann angenommen werden, dass hier lebende Menschen schon in einem kurzen Zeitabschnitt fast alle möglichen meteorologischen Zustände erleben und sich gleichzeitig der hohen Variabilität bewußt sind. So wie wir heute auch ohne Messwerte durch vergleichende Beschreibungen ein realistisches Bild der Witterung über Raum und Zeit hinweg vermitteln können, waren auch schon früher die Menschen in der Lage, ein kollektives, objektivierbares Gedächtnis zu produzieren und relative Bezüge herzustellen.

Vielmehr ist eine Veränderung der Sichtweise nötig, Schwankungen der Mittel-temperatur als eine retrospektive Konstruktion zu sehen. Werden mittel- und langfristige Klimaänderungen hingegen als Folge von Verschiebungen der Frequenz gleichgerichteter Witterungsanomalien in längeren Zeitabschnitten wahrgenommen, so verlieren die Unsicherheiten, z. B. durch mögliche Adaption der Wahrnehmung bei der Bewertung einzelner Monate oder Jahreszeiten, an Bedeutung. Die Unsicherheiten werden zusätzlich relevant, da historische Quellen, anders als natürliche Proxies, Hinweise zu allen Monaten des Jahres liefern und damit eine große Datengrundlage schaffen. Diese Breite der Datenbasis wird durch die Vielzahl und Vielgestaltigkeit der verwendete Daten weiter verstärkt. Die Bewertungen einzelner Monate und Jahreszeiten basieren häufig auf unabhängigen Quellen und sind zudem häufig auch objektivierbar durch die Kopplung der Beobachtungen an physikalisch basierte Hinweise wie das Zufrieren von Gewässern oder phänologische Angaben. Deshalb kann davon ausgegangen werden, dass die deskriptiven Informationen ausreichend differenziert sind, um daraus belastbare Intensitätsklassen zu bilden. Diese gilt in besonderem Maße für Zeiten, in welchen viele verschiedene Quellen vorliegen und diese außerdem räumlich differenziert sind.

Eine wichtige Erkenntnis der Untersuchungen ist, dass es prinzipiell möglich ist, mit nur drei Bewertungsklassen in saisonaler Auflösung mittel- und langfristige Schwankungen zu beschreiben. Aus den in diesem Zusammenhang gewonnenen Ergebnissen wurde eine angepasste Methode zur Kalibrierung indexbasierter Informationen entwickelt: Die durch die Indizes beschriebene Variabilität für längere Zeitabschnitte wird an die gemessene Variabilität längerer Zeitabschnitte angepasst, das sog. variance scaling. Da Indizes meist unabhängig voneinander sind, erscheint die Kalibrierung in einem kurzen, überlappenden Zeitraum unsinnig, würde dies doch voraussetzen, dass der für diesen Zeitraum zu diesem Datensatz gefundene Zusammenhang auf unabhängige Daten übertragen werden kann. Deshalb ist die Annahme der hier vorgestellten Kalibrierung, dass durch die Mengen an unterschiedlich verfügbaren (unabhängigen) Quellen für länger Zeiträume die Variabilität des Klimas beschrieben wird. Mit der hierfür entwickelten allgemeinen mathematischen Vorschrift zur Kalibrierung von Indizes in Temperaturen kann umgekehrt auch eine quantitative Abschätzung erfolgen, welchem Temperaturunterschied ein Indexschritt im Mittel entspricht. Durch MC-Simulation wurde u. a. die Unsicherheit abgeschätzt, welche sich durch den Prozess der Indexbildung ergibt. Dabei zeigt sich, dass selbst bei einer Fehldeutung einzelner Monate oder Jahreszeiten um einen Indexschritt das langfristige Signal unberührt bleibt. Da für den Untersuchungsraum sehr hohe monatliche bzw. saisonale Variabilität sowie eine hohe interannuale Variabilität vorliegen, würden Indexfehler durch adaptierte Wahrnehmung nur einzelne Monate oder Jahreszeiten treffen, sicherlich jedoch nicht für alle Monate oder Jahreszeiten eines längeren Zeitraumes zutreffen.

Das Ergebnis der kalibrierten Indexreihe ist eine Rekonstruktion der Temperaturentwicklung für Mitteleuropa für die letzten 1000 Jahre. Darin lassen sich die bekannten klimatischen Phasen wiederfinden und quantifizieren. Danach übersteigen die Jahresmittel seit ca. 1980 die Temperaturen des letzten Jahrtausends. Auffällig ist dabei jedoch, dass dieser Anstieg vor allem auf eine Zunahme der Wintertemperaturen zurückzuführen ist. Die Sommertemperaturen weisen für das letzte Jahrtausend eine gleichbleiben hohe mittelfristige Variabilität auf, welche auch in der Zeit seit ca. 1980 keinen ungewöhnlich Anstieg aufweist. Ohnehin tragen die Sommertemperaturen aufgrund der kleineren Amplitude ihrer Schwankungen gegenüber den Wintertemperaturen deutlich weniger zum Jahressignal bei. Die Stärke der beobachteten kurz- und mittelfristigen Schwankungen sind keine Besonderheit der Moderne, der langfristige Trend ab ca. 1900 ist jedoch in seiner Stärke einmalig für das letzte Jahrtausend.

Die Möglichkeit zur quantitativen Abschätzung der Aussagekraft einzelner Indizes erlaubte die Entwicklung eines Modells zur Regionalisierung der räumlich verteilt vorliegenden Angaben. Durch diese räumliche Analyse kann die Rekonstruktionsgüte für den gesamten Raum deutlich erhöht werden, da die rekonstruierten Felder klimatische Muster widerspiegeln und es auf diese Weise möglich ist, Informationen verschiedener Regionen so einzubeziehen, dass sie physikalische Gesetzmäßigkeiten berücksichtigen. Das Modell ist in der Lage, die Größe des Gebietes, für welches die Felder rekonstruiert werden, an die Datenlage und die Repräsentanz der jeweiligen Informationen anzupassen und ist somit auf verschiedene geographische Räume und Klimaparameter anwendbar. Mit dem Regionalisierungsmodell ist ein zusätzliches Werkzeug zur Verifizierung der in den Quellen beschriebenen Angaben verfügbar, welches zudem den Brückenschlag zu natürlichen Proxies ermöglichen kann. Durch die Regionalisierung ist eine präzise Bestimmung der Temperaturen für ausgewählte Räume möglich. Die bei Abschluss dieser Arbeit im Datensatz HisKliD verfügbaren Daten erlauben momentan noch nicht die Ableitung einer belastbaren durchgängigen Temperaturreihe durch Abfrage dieser Datenbank.

Wie gezeigt werden konnte, lässt sich aus der Zusammenführung von dreistufig klassifizierten Hinweisen in saisonaler Auflösung ein langfristiges Klimasignal ableiten. Diese Möglichkeit der indexbasierten Rekonstruktion wurde in einer Multi-Proxy-Studie auf natürliche Proxies erweitert. Hierfür wurden dendrochronologische Daten sowie quellenbasierte Daten auf dreistufige saisonal aufgelöste Indizes reduziert und durch ein Majoritätsprinzip ein gemeinsames Signal bestimmt. Damit ist es möglich, ein durchgängiges Klimasignal für Mitteleuropa abzuleiten, welches auf einer breiten Datenbasis verschiedener Klimazeiger basiert. Die resultierende Reihe zeigt dabei ebenfalls die bekannten klimatischen Phasen wie das Mittelalterliche Wärmeoptimum, die kleine Eiszeit und den modernen Temperaturanstieg.

Bei der Erstellung von Zeitreihen zur Temperaturentwicklung aus historischen Quellen für mehrere Jahrhunderte ist vorerst die hermeneutische Ableitung nötig, da eine automatische Aggregation bei der aktuellen Datenlage nicht möglich ist. Durch die Einbindung von verschiedenen Proxies kann die Datendichte deutlich erhöht werden. Wie in der Multi-Proxy-Studie gezeigt wurde, können damit zudem Unsicherheiten, wie die Veränderung der Quellendichte mit der Zeit und die mögliche Anpassung der subjektiven Wahrnehmung an veränderte Klimabedingungen relativiert werden.

Aus der Erkenntnis, dass Indizes ausreichend differenzierte Angaben liefern, um damit sowohl langfristige Veränderungen als auch räumliche Muster abzubilden, lässt sich eine möglicherweise notwendige Veränderung in der paläoklimatischen Forschung für die hier untersuchten Zeiträume formulieren: Die Abkehr von der Suche nach durchgängigen Zeitreihen hin zur Bestimmung glaubhafter Aussagen zu einzelnen Jahreszeiten. Eindeutige Aussagen zu den Bedingungen in den Jahreszeiten ausgewählter Jahre, wie Dürren oder sehr kalte Winter, sind für eine Klimarekonstruktion hilfreich. Der Rest vieler Signale ist unspezifisches Rauschen.